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10 Jahre IceCube: Interview mit Christian Spiering

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10 Jahre IceCube: Interview mit Christian Spiering

IceCuber im Einsatz: Christian Spiering vor „Ivan the Terrible" an der Forschungs- und Logistikstation McMurdo in der Antarktis.

Herr Spiering, was war ihre Motivation, Neutrino-Astrophysiker zu werden?
Das war noch zu DDR-Zeiten. Ich habe in Dubna und Protwino an Beschleunigern gearbeitet und mich geärgert, dass wir dem Westen immer zehn Jahre hinterherhinkten. Also dachte ich: In der Neutrino-Astronomie haben wenigstens beim Beschleuniger alle die gleichen Startbedingungen: den kosmischen Teilchenbeschleuniger! Und dann explodierte 1987 eine Supernova, die nah genug dran war, um Neutrinos nachzuweisen. Das war ein Riesenereignis, eine Goldgrube für Astronomie und Astrophysik. Das Forschungsfeld hatte plötzlich eine extreme Anziehungskraft – auch für mich.

Und welcher Ur-Gedanke steckt hinter einem Neutrinoteleskop wie IceCube?
Die Suche nach der Quelle kosmischer Strahlung! Kosmische Strahlen haben unfassbar hohe Energien, ein Beschleuniger mit LHC-Technologie müsste dafür den Umfang der Erdbahn haben. Die Frage ist: Wie macht die Natur das, wie bringt sie Teilchen auf so schwindelerregende Energien? Wenn wir mit einem Neutrinoteleskop die Herkunft hochenergetischer Neutrinos bestimmen könnten, dann würden wir auch die Quellen der kosmischen Strahlung kennen.

Was bedeutet das für uns?
Ich hol an der Stelle einfach mal etwas aus. Nehmen wir als Beispiel Supernovae: Sterne explodieren, weil von innen ein Neutrinowind nach außen drückt. Dabei werden – wie Saatkörner ­– Elemente wie Kohlenstoff und Eisen ins Universum geschleudert, die letztlich unsere eigene Existenz erst ermöglichen. Wir erfahren also etwas darüber, woher wir selbst, beziehungsweise unsere Bestandteile kommen. Mit den kosmischen Strahlen ist das nicht ganz so offensichtlich. Aber: Ohne sie hätte unsere Galaxis vermutlich eine etwas andere Struktur – und vielleicht würde gerade dieser kleine Stern namens Sonne gar nicht existieren. Kosmische Strahlen spielen außerdem für die Existenz von uns Menschen eine Rolle. Sie gehen permanent durch uns hindurch, rufen Zellmutationen hervor und tragen letztlich zur Evolution bei. Und schließlich sind sie mit Riesenabstand das Energiereichste, was das Universum nach dem Urknall hervorgebracht hat. Wie dem Kosmos dieses Kunststück gelingt – das möchte man doch verstehen!

Lassen Sie uns über Detektoren in der Antarktis sprechen, über IceCube…
… und AMANDA. Das war der Prototyp für IceCube. 1995 wurden wir offizielles Mitglied dieses multinationalen Teleskop-Projekts am Südpol. Damals waren wir nicht mehr als 30 Leute – eine Truppe Träumer, darunter eine Handvoll DESYaner. Einer von denen war ich. Das „collaboration dinner“ 1997 fand im Wohnzimmer meiner Wohnung am Prenzlauer Berg statt. Für IceCube-Dinner muss man heute schon große Säle buchen.

Das klingt nach längst vergangenen Zeiten
Es war schon eine Art Wildweststimmung gepaart mit einer gewissen Naivität. Aber wenn man alle Probleme vorher kennen würde, dann finge man manches erst gar nicht an.

Weshalb war Amanda so wichtig für IceCube?
Die Amanda-Geschichte ist voller Pannen, heute würde man sie vornehmer „Herausforderungen“ nennen. Das hat das Projekt manchmal fast an den Rand des Scheiterns gebracht. Aber wir haben aus den Fehlern gelernt und keinen einzigen bei IceCube wiederholt. Gott sei Dank hatten wir auch in den schwierigen Momenten mit Paul Söding in Zeuthen und DESY-Direktor Björn Wiik Leiter, die an uns glaubten – und dabei auch in die Zukunft schauten. Das Amanda-Projekt war zum Beispiel noch nicht fertig, da nahm mich Björn Wiik nach kritischen Fragen zu unseren allerersten IceCube-Plänen zur Seite und sagte: „Sind Sie überzeugt, dass Sie einen Kubikkilometer brauchen? Dann bauen Sie das Ding und hören Sie nicht auf Bedenkenträger!“

Bis heute wurden mehr als 100 kosmische Neutrinos nachgewiesen; in einem Fall wurde eine aktive Galaxie als mögliche Quelle identifizieren: Können Sie für uns die Ergebnisse der ersten zehn Jahre von IceCube einmal einordnen?
Nach AMANDA hätte ich, wie viele von uns, erwartet, dass wir bei IceCube gleich zu Beginn etwas sehen. Aber da kam erst einmal nichts. Erst 2013 haben wir kosmische Neutrinos entdeckt – das war der Durchbruch, da haben wir die Sektkorken knallen lassen…. Mit der Zuordnung unserer Neutrinos zu bekannten astrophysikalischen Quellen stehen wir aber erst am Anfang. Natürlich hätte ich mir gewünscht, schon jetzt vier oder fünf glasklare Quellen zu haben. Aber manchmal muss man einfach noch mehr Daten sammeln und nicht zu schnell aufgeben. Neutrinophysiker sind Dickbrettbohrer.

… und hart im Nehmen. Der Südpol ist einer der einsamsten und kältesten Orte unserer Erde: Was hat Ihnen am meisten zugesetzt?
In den ersten Tagen war es die Höhenluft und Atemnot. Man ist ja auf 3000 Metern. Außerdem ist die Schlaflosigkeit unangenehm, bei der sicherlich auch die Sonne eine Rolle spielt, die permanent über dem Horizont steht. Der medizinische Test vor der Abreise ist schon extrem gründlich. Aber man muss kein Reinhold Messner sein, um dort vier Wochen zu arbeiten.

Apropos medizinischer Test: Sie spielen eine entscheidende Rolle in einem Weisheitszahn-Krimi…
Eine legendäre Geschichte! Ich hatte einen fantastischen, fleißigen Doktoranden, der in der letzten AMANDA-Saison (1999/2000) zur Südpolstation sollte. Der hatte aber ein Weisheitszahn-Problem. Sie müssen wissen, dass sich problematische Weisheitszähne in großen Höhen häufig entzünden. Der junge Mann hatte sich bereits drei ziehen lassen, bei einem davon gab es massive Komplikationen, weshalb er sich an den vierten nicht ‘rantraute. Einen Tag vor Abflug kam die Nachricht, er sei medizinisch nicht qualifiziert, weil eben der vierte Weisheitszahn noch da sei. Als er verzweifelt zu mir kam, sagte ich: ‚Gib mir die Zahnarzt-Bescheinigung und Tipp-Ex, dann machen wir aus der drei eine vier.‘  Da zeigte sich, dass ich aus dem letzten Jahrhundert war. Er sagte: ‚Das machen wir mit Photoshop.‘. Gesagt, getan. Wir haben dann gemeinsam auf die Antwort gewartet: medically qualified. Am nächsten Tag ist er losgeflogen – alles ging gut. Ich vermute, er hat den Zahn heute noch.

Würden Sie denn selbst gerne noch einmal zum Südpol aufbrechen?
Nein, ich würde keine „medical qualification“ mehr bekommen. Außerdem war ich viermal da. Insgesamt rund 13 Wochen. Ich würde es viel mehr den jungen Leuten gönnen. Damals kamen die Doktoranden übrigens nicht nur zu uns, weil sie die Physik so toll fanden, sondern auch weil sie an den Südpol wollten.

Was ist denn für die nächste Forschungsgeneration ­– damit auch für IceCube-Gen2 – die dringlichste Aufgabe?
Wir haben ein Fenster in eine bisher völlig unbekannte Landschaft im Universum geöffnet. Die gibt es also, diese Landschaft! In den nächsten Jahrzehnten müssen wir sie jetzt kartieren: mit Einzel-Quellen und sämtlichen Informationen, damit aus lauter Mosaiksteinchen ein völlig neues Bild entsteht. Eine Landschaft aus Teilchenbeschleunigern, die von Mechanismen regiert wird, über die wir im Moment nur spekulieren können.

Jenseits aller Erwartungen…
Nach dem alten Prinzip: Sie bauen etwas zig-fach Größeres als das Bisherige und sehen dann etwas völlig Unerwartetes. Das geht durch die Jahrhunderte von Galilei bis zu den ersten Radioteleskopen. Und so hoffen wir, dass wir auch mit IceCube-Gen2 Dinge sehen werden, die wir noch gar nicht auf unserem Zettel hatten. Meine Traumvorstellung wäre, dass wir etwas völlig Unbekanntes entdecken; etwas Verrücktes. Das wäre toll!