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Wissenschaft in Sanktionszeiten

Wie ein Europäisches Forschungsprojekt unter DESY-Leitung umgewidmet wird

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Wie ein Europäisches Forschungsprojekt unter DESY-Leitung umgewidmet wird

DESYs Mann für internationale Kooperationen: Martin Sandhop. Foto: DESY/Marta Mayer

Martin Sandhop leitet bei DESY die Gruppe für internationale Beziehungen, „International Cooperation and Strategic Partnerships“. 2013 wechselte Sandhop, der auch einige Jahre in der Ukraine gearbeitet hatte, aus dem Moskauer Büro der Helmholtz-Gemeinschaft zu DESY, um vor allem eine strategische Plattform mit Russland aufzubauen. „DESY gehört zu den drei, vier Instituten, die bis zum 24. Februar 2022 die intensivsten Kooperationen mit russischen Instituten unterschiedlichster Art hatten“, sagt Sandhop. „Es sind über Jahrzehnte historisch gewachsene Beziehungen.“ Seit Kriegsbeginn hat sich die Lage dramatisch geändert. Ein Gespräch über die Auswirkungen für ein Forschungsinstitut wie DESY, für die Wissenschaftswelt und darüber, wie das ehemalige russisch-europäische Großprojekt CREMLINplus gerade zugunsten der Ukraine umgewidmet wird.

Martin Sandhop, wie hart treffen DESY die Sanktionen? 

Ziemlich empfindlich. Bis zum 24. Februar war es ja so, dass DESY nicht nur in der Teilchenphysik, sondern auch in der Beschleuniger-Entwicklung, in der Photon Science, in der digitalen Entwicklung und traditionell auch in der Astroteilchenphysik mit Russland verbunden war. Der Krieg und die daraus resultierenden Sanktionen haben uns in einer Zeit getroffen, in der alle – auch wir – dachten, die Zusammenarbeit mit Russland in der Forschung würde auch einen Beitrag dazu leisten, Russland auf einen pro-europäischen Weg zu bringen. Heutzutage fassen wir uns alle an die eigene Nase und sagen: Hätten wir mal gewusst, dass unter Putin alles so viel schlimmer wird.

War man also auch in der Wissenschaft Russland gegenüber zu blauäugig?

Ich persönlich glaube ja. Aus heutiger Sicht. Aber was konnte daran verkehrt sein, Zusammenarbeit als ein friedliches Instrument zu betrachten?

Welche Konsequenzen haben die Sanktionen für die rund 25 Forschungs-Kooperationen von DESY mit Russland?

Im Moment gibt es überall in Europa, auch in Deutschland, auch bei DESY, die klare Ansage, dass die Kooperationen ausgesetzt werden. Und wir wissen nicht, wie lange. Aber: Die Lücken, die durch Sanktionen verursacht werden, füllen wir. Es kostet Zeit, es kostet Geld, aber es lässt sich verschmerzen.

Lassen Sie uns einmal explizit über das europäische Projekt CREMLINplus sprechen:

CREMLINplus ist ein Vier-Jahres-Projekt mit einer langen Vorgeschichte und einem schnellen Cut: 2014 wurde ein Antrag für ein EU-Projekt zur europäisch-russischen Kooperation eingereicht, der die Zusammenarbeit rund um fünf sogenannte russische ‚Megascience-Projekte‘ vorbereiten sollte. Daraus ging zuerst CREMLIN, dann später auch CREMLINplus hervor – und im Februar 2020 an den Start. Russland hatte einen Anteil von etwa einem Drittel. Zwei Jahre später, zur Hälfte der Projektzeit, wurde die Zusammenarbeit mit den zehn russischen Partner-Einrichtungen beendet. Wirklich beendet, nicht nur ausgesetzt!  Die Europäische Kommission in Brüssel hat dies an Russland kommuniziert. Und weil das Projekt auf europäisch-russische Zusammenarbeit im Bereich Infrastrukturen angelegt war, können wir es so nicht weiterführen.

Und was bedeutet das jetzt?

Zwar ist die Kooperation mit den russischen Partnerlaboren beendet – das Projekt selbst aber nicht. Deshalb befinden wir uns gerade in einem höchst komplexen Prozess, die Ausrichtung der zweiten Projekthälfte komplett neu und nur mit europäischen Partnern zu definieren. Wir sind jetzt noch 25 europäische Labore, wobei wir neben dem Kiewer Institute of Nuclear Research eine zweite ukrainische Einrichtung ins Konsortium mit aufnehmen werden: das Kharkiv Institute of Physics and Technology (NSC KIPT). Die Ukraine ist ja zum europäischen Forschungsrahmenprogramm assoziiert. Unter allen europäischen Partnern ist der Wunsch groß, die Zusammenarbeit zu einem guten Ende zu führen. Schließlich geht es auch um 25 Millionen Euro. Und für DESY ist das Projekt besonders im Bereich des geplanten Großforschungsgeräts PETRA IV von großer Bedeutung.

Welches sind konkret die nächsten Schritte – und welche Rolle fällt DESY dabei zu?

Die Europäische Kommission hat DESY mit der Koordination beauftragt, den Vorschlag für die Reorganisation des Projekts auszuarbeiten. Als erstes wurde der Name geändert, von CREMLINPlus in EURIZON. Die ganze Darstellung, angefangen beim Logo, wird verändert. Technisch gesehen ist es ein Änderungsantrag. Das heißt: die Grant-Nummer ist fast das Einzige, was die beiden Projekte noch verbindet.

Und wie sieht die neue Ausrichtung ohne die ehemaligen russischen Partner aus?

Bei den nicht-technischen Arbeitspaketen von EURIZON liegt der Fokus jetzt auf der Unterstützung der Ukraine. Wir wollen einen möglichst großen Anteil des Budgets, das für die russischen Parteien in der zweiten Projekthälfte im Brüssel-Topf vorgesehen ist – das sind 4,6 Millionen Euro – in Maßnahmen stecken, die ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Sofortmaßnahmen unterstützen. Ähnliches gilt für die zerstörte Forschungsinfrastruktur im Land. Dabei muss man natürlich die aktuelle Kriegssituation im Blick haben. Also wird es überhaupt möglich sein, in der Rest-Laufzeit von zwei Jahren Maßnahmen in der Ukraine umzusetzen?

Wie schätzen Sie die Erfolgschancen ein?

Der Antrag befindet sich gerade in der Evaluierungsphase. Ich hoffe, dass er noch vor der Sommerpause von der europäischen Kommission genehmigt wird.

Wäre es dann auch eine Blaupause für andere Projekte?

Ja. Der Abänderungs-Antrag könnte bei Erfolg eine gute Vorlage sein, wie mit anderen Kooperationen verfahren werden könnte.

Welche anderen Themen bewegen Sie aktuell?

Speziell zur Ukraine ist eines unserer Themen der DESY Relief Funds, mit dem wir Programme aufsetzen, um ukrainischen Forschenden in Not zu helfen. Das schließt auch die Bereitstellung von Mitteln ein, um einzelnen ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zeitlich begrenzt eine ihrem Profil entsprechende Beschäftigung zu ermöglichen. Dieses Programm komplementiert die Helmholtz-Initiative für Geflüchtete.

Darüber hinaus planen wir für den Herbst eine größere Transatlantik-Konferenz in Washington, D.C., die wir gemeinsam mit der Carnegie Institution for Science (Carnegie Science) ausrichten wollen. Wir bauen die Zusammenarbeit mit Israel weiter aus. 2023 wollen wir eine Delegationsreise ins Baltikum organisieren. Es gibt wirklich so viele internationale Projekte und Richtungen, in die DESY geht, die stärker adressiert werden oder die im Moment eine höhere strategische Bedeutung bekommen.

Liegen darin auch Chancen?

Ich denke, dass aus der Situation heraus entschieden werden muss, Alternativen wie bei CREMLINplus aufzubauen. DESY ist international wirklich so breit vernetzt und stark aufgestellt, dass der temporäre Wegfall der russischen Partner-Einrichtungen uns zwar nachdenken lässt – aber keinen elementaren Schaden zufügt. Wie eine Zeit nach dem Krieg aussehen kann, ist im Moment wirklich vollkommen offen.

Welche ist diesbezüglich Ihre größte Sorge – für die Wissenschaftswelt und für DESY?

Wenn wir vielleicht sogar irreversibel von der russischen Forschung abgekoppelt wären. Das wäre langfristig gesehen ein Fehler: für die Helmholtz-Zentren, für Deutschland, für Europa. Das wäre ein Weg, der nicht zu einer friedlicheren Welt führt und auch für die Wissenschaft keine Option ist. Das ist meine persönliche Meinung. Für mich kommt es immer darauf an, den einzelnen Menschen zu sehen. Für mich ist das auch der Grund, den Gesprächskanal mit einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Russland offen zu halten.