„Nehmt euch Zeit zum Denken, zur Diskussion, zum Zweifeln!“
Presse & Kommunikation
„Nehmt euch Zeit zum Denken, zur Diskussion, zum Zweifeln!“
Frau Professor Beisiegel, wie beurteilen Sie – aus Sicht der Wissenschaft und aus ethischer Sicht – die momentane Situation: Befinden wir uns zwischen dem Wunsch nach Lockerungen und der Angst vor einer zweiten Infektionswelle nicht in einem unüberwindbaren Zwiespalt?
Das ist im Moment eine der schwierigsten Fragen überhaupt. Auf der einen Seite haben wir in Deutschland bisher eine sehr verantwortungsvolle Politik erlebt. Trotzdem muss jetzt die Öffnung so gestaltet werden, dass nicht nur der ethische Aspekt – wir schützen alle Menschen, damit sie nicht sterben –, sondern auf jeden Fall gewisse Freiheitsrechte berücksichtigt werden und dazu die so wichtige soziale Interaktion wieder anlaufen kann. All das mit der Verantwortung von Abstandhalten und Maskenpflicht. Eine ganz schwere Balance. Ich möchte da nicht in der Haut der Politikerinnen und Politiker stecken.
Es wird ja derzeit wirklich nach dem Prinzip "trial and error", Versuch und Irrtum, agiert, weil wir zum ersten Mal in einer solchen Situation stecken.
Ja, wissenschaftlich möchte man einerseits möglichst wenig Ansteckung – andererseits eine Herdenimmunisierung. Ich glaube, derzeit kann niemand, weder in der Politik noch in der Wissenschaft, alleine Entscheidungen treffen. Wir brauchen eine gute Balance mit Augenmaß.
Und einen Wissenschafts-/Philosophie-/Ethik-Rat dazu …
…den es ja mit der Leopoldina zum Beispiel auch gibt. Leider sind da wenig Frauen vertreten, obwohl Frauen an vielen Stellen sehr pragmatisch sind. Insofern sollten solche Gremien durchaus mehr Kolleginnen einbinden.
Das generelle Vertrauen in Wissenschaft und Forschung ist in den vergangenen Wochen deutlich angestiegen. Wird das nachhaltig sein? Oder kann es auch schnell wieder verspielt werden?
Ich bin ganz hoffnungsfroh, dass es nachhaltig sein wird. Aber dazu braucht es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die auch die Sprache der Menschen sprechen. Da ist Christian Drosten ein schönes Beispiel. Der Leiter der Virologie der Berliner Charité wird verstanden, wenn er etwas erklärt. Aus meiner Erfahrung als Präsidentin einer Universität weiß ich, wie schwierig es ist, Wissenschaftskommunikation in diesem Sinne zu fördern. Also, Forschende: Erzählt der Öffentlichkeit, was ihr macht. Und zwar in einer Sprache, die die Menschen verstehen.
Ich habe den Eindruck, die Wissenschaft ist mittlerweile etwas unter Druck geraten; von einigen Medien, von der Politik, der Gesellschaft und der Forschung selbst. Bereitet Ihnen das Sorgen?
Das Verantwortlichmachen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern macht mir natürlich Sorgen. Es ist schwierig, der Bevölkerung und manchmal auch den Politikerinnen und Politikern die Differenziertheit klarzumachen. Aber: Die gesellschaftliche Verantwortung, die wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben, ist lange Zeit nicht genutzt worden. Wir müssen uns jetzt alle trainieren, mit wissenschaftlichen Aussagen umzugehen. Wir sind da auf einem guten Weg. Aber ich glaube auch: Der Anspruch an die Wissenschaft ist zurecht da. Und die Verantwortung, die wir haben, sollten wir auch wahrnehmen.
Wissen zu generieren und es mitzuteilen – ist das auch eine Frage der Ethik? Also: Wann wird über Ergebnisse gesprochen? Wer beurteilt die Relevanz für die Gesellschaft?
Erkenntnisse jedweder Art müssen kommuniziert werden. Und auch das hat eine ethische Komponente. Wir machen ja auch an den Universitäten und Wissenschaftseinrichtungen Forschung mit den Geldern der Gesellschaft. Insofern sehe ich da schon einen richtigen Anspruch, dem wir gerecht werden müssen; auch wenn das alles nicht einfach ist.
Wird die wissenschaftliche Verantwortung neu definiert werden müssen?
Ja, hoffentlich hat uns diese Art von Entschleunigung zum Nachdenken gebracht. Auch in der Wissenschaft geht es eben nicht nur um schneller, höher, besser – sondern auch um Qualität. Also: erst denken, dann handeln. Damit meine ich auch, dass wir das Zweifeln verlernt haben. Wir haben verlernt, Dinge zu hinterfragen und Irrtümer zu akzeptieren. Das sind für mich alles ethische Aspekte. Und deshalb hoffe ich, dass wir jetzt dieses ‚sich einmal zurücklehnen‘ gelernt haben und dadurch eine qualitativ noch bessere und zukunftsfähige Wissenschaft machen, die in der Verantwortung der Gesellschaft steht.
Was raten Sie denn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in diesem Zusammenhang?
Ich rate vor allem den jungen Forschenden etwas, wofür ich manchmal kritisiert werde: Nehmt euch Zeit zum Denken, zur Diskussion, zum Zweifeln und erlaubt euch auch einmal einen Irrtum. Das ist eine der wichtigsten Botschaften für richtig gute Wissenschaft.
Und allen anderen?
Ich würde gerne allen Mut machen. Jede und jeder Einzelne ist gerade an einem Punkt, an dem man sich selber hinterfragen kann. Wie wäre es zum Beispiel, Selbstverwirklichungsaktivitäten umzuwandeln und mit Kraft und Kreativität für die Gesellschaft einzusetzen? Jetzt wäre der Moment dafür!
Welche Frage beschäftigt Sie eigentlich persönlich derzeit am meisten?
Sie werden sich wundern: Mich treiben Klimawandel und die dazu fehlenden Aktivitäten noch viel stärker um als das Coronavirus. Ich bin davon überzeugt, dass wir als Führungspersönlichkeiten sehr gut darüber nachdenken müssen, welche Lehren wir aus der Coronakrise für die Lösung von Klimafragen ziehen können.
Und was haben Sie aus der Krise gelernt?
Als Biochemikerin und Wissenschaftsmanagerin ziehe ich folgende Konsequenz: Die Wissenschaft muss auch im Vorfeld einer Krise viel stärker agieren. Das heißt: Politik und Wissenschaft müssen zukünftig viel mehr präventiv zusammenarbeiten.
Wie wird es Ihrer Meinung nach weitergehen? Sind wir am Beginn einer neuen Weltordnung?
Ja. Meiner Meinung nach müssen die Wirtschaftswissenschaften mit der Politik zusammen Wege finden, wie wir eine ‚gesunde Globalisierung‘ und auch einen ‚gesunden Kapitalismus‘, wie ich das jetzt mal nennen will, hinbekommen. Es kann nicht so weitergehen, dass wir alle Masken in China kaufen oder Medikamente dort herstellen lassen, um einen Cent zu sparen. Auch das ist eine ethische Frage. Wir müssen weg von „Money talks“. Der Markt muss den Menschen dienen – und nicht der Mensch dem Markt. Das bedeutet auch, dass wir alle lernen müssen, unser Konsumverhalten umzustellen.
Ist das die große Chance in der Krise?
Absolut! Es ist auch unsere letzte Chance! Sowohl für das Klima als auch für die Gesellschaft. Die müssen wir jetzt nutzen. Wir wissen nach dem jetzt Erlebten genau, wo die Stellschrauben sind. An denen müssen wir jetzt drehen. Da ist natürlich auch die Wissenschaft gefragt.
Interview: Christina Mänz
Zur Person:
Die Biochemikerin Prof. Dr. Dr. h. c. Ulrike Beisiegel war Direktorin des Instituts für Biochemie und Molekularbiologie sowie Prodekanin Forschung des Fachbereichs Medizin am Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf (UKE), das sie zur Professorin auf Lebenszeit ernannte. In der Wissenschaftspolitik war sie Sprecherin des Ombudsmanns der DFG, Mitglied des Wissenschaftsrates und dort Vorsitzende der Wissenschaftlichen Kommission sowie Senatorin der Leibniz-Gemeinschaft.
Prof. Beisiegel war bis 2019 Präsidentin der Georg-August-Universität Göttingen. Die 67-Jährige ist Ehrendoktorin der Universitäten Umeå (Schweden) und Edinburgh (Schottland). Außerdem ist sie Mitglied des Senats der Max-Planck-Gesellschaft, im Aufsichtsrat des Forschungszentrums Jülich sowie der Universitätsräte in Frankfurt, Passau und Graz. Seit dem 25. März 2020 ist sie Vorsitzende der DESY-Ethikkommission.