Topthema: Der Ukrainekrieg und die Wissenschaft: Warum ein europäisches Forschungsprojekt unter DESY-Leitung umgewidmet wird +++ Wie sich ukrainische und russische DESY-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gemeinsam für ukrainische Kolleginnen und Kollegen in Not engagieren +++ Welche Folgen die Sanktionen für DESYs Forschungsbereiche haben +++
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Liebe Leserin, lieber Leser,
es war für uns alle ein Schock, als wir am 24. Februar 2022 aufwachten und vom Einmarsch Russlands in die Ukraine hörten. Unvorstellbar, dass so etwas im heutigen Europa geschehen könnte. Viele von DESYs Studierenden, Postdocs und Mitarbeitenden haben Freunde und Familien in den betroffenen Städten und Regionen, das bringt diese menschliche Tragödie so nah an unser tägliches Leben.
Unser Forschungszentrum gibt es seit mehr als 60 Jahren, die weltweit offene Kooperation ist Bestandteil unserer DNA. Selbst im Kalten Krieg haben wir die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern jenseits des Eisernen Vorhangs aufrechterhalten. Aber jetzt erleben wir eine elementare Bedrohung. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine ist ein Angriff auf unsere europäische Friedensordnung.
Daher hat auch DESY Zeichen gesetzt: Wir haben alle Kooperationen mit russischen Organisationen auf Eis gelegt. Und dies ist mir und uns wichtig: Die Sanktionen richten sich nur gegen Institutionen in Russland und nicht gegen einzelne russische Forscherinnen und Forscher. Dies ist ein klares Zeichen des Forschungszentrums, eine Solidaritätsbekundung gegenüber den Menschen in der Ukraine und ein klares Stopp-Signal in Richtung Russland.
Wir werden uns aber niemals von unserer Grundidee verabschieden: Die Freiheit der Wissenschaft ist ein Grundpfeiler jedes wissenschaftlichen Systems, und als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen wir dafür kämpfen, dass diese Freiheit weiter aufrechterhalten wird.
Auch für DESY haben die Maßnahmen Konsequenzen, doch unsere Forschung ist dadurch in keiner Weise gefährdet. Wir werden mit unseren anderen Partnern die Projekte fortführen, die bisher von russischer Seite betreut wurden. Das ist nicht einfach, aber machbar, daran arbeiten wir. Und für künftige Kooperationen müssen wir unsere Lektion lernen: Wir müssen handlungssicherer werden, gerade wenn wir Kooperationen mit Ländern starten, die politisch schwierig sind.
Die Welle der Unterstützung und des Mitgefühls auf der ganzen Welt – auch bei DESY – ist überwältigend. Wir stehen an der Seite der Ukraine und werden alles uns Mögliche tun, um Unterstützung und Hilfe zu leisten.
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DESYs Mann für internationale Kooperationen: Martin Sandhop. (Foto: DESY/Marta Mayer)
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Wissenschaft in Sanktionszeiten: Wie ein Europäisches Forschungsprojekt unter DESY-Leitung umgewidmet wird
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Martin Sandhop leitet bei DESY die Gruppe für internationale Beziehungen, „International Cooperation and Strategic Partnerships“. 2013 wechselte Sandhop, der auch einige Jahre in der Ukraine gearbeitet hatte, aus dem Moskauer Büro der Helmholtz-Gemeinschaft zu DESY, um vor allem eine strategische Plattform mit Russland aufzubauen. „DESY gehört zu den drei, vier Instituten, die bis zum 24. Februar 2022 die intensivsten Kooperationen mit russischen Instituten unterschiedlichster Art hatten“, sagt Sandhop. „Es sind über Jahrzehnte historisch gewachsene Beziehungen.“ Seit Kriegsbeginn hat sich die Lage dramatisch geändert. Ein Gespräch über die Auswirkungen für ein Forschungsinstitut wie DESY, für die Wissenschaftswelt und darüber, wie das ehemalige russisch-europäische Großprojekt CREMLINplus gerade zugunsten der Ukraine umgewidmet wird.
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Die gebürtige Russin Natalia Potylitsina-Kube und der Ukrainer Andrei Hloskovsky engagieren sich gemeinsam für den DESY Relief Funds. (Foto: DESY/Christina Mänz)
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DESY-Hilfe: Ukrainisch-russisches Engagement – gemeinsam für die ukrainische Wissenschaft
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Sie ist gebürtige Russin und seit 15 Jahren bei DESY. Er stammt aus Lwiw in der West-Ukraine und kam 2012 auf den Hamburger DESY-Campus. Gemeinsam engagieren sich Natalia Potylitsina-Kube und Andrei Hloskovsky für den DESY Relief Funds. Seit Mitte März trifft sich wöchentlich eine kleine Gruppe, um Wege und Mittel zu finden, ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Not zu helfen. „Der 24. Februar hat mein Seelenleben komplett verändert. Ich kann den Gedanken nicht aushalten, dass mein Land, das ich gerade nur schwer als mein Land bezeichnen möchte, in die Ukraine einmarschiert ist“, sagt Natalia Potylitsina-Kube, die bei DESY als wissenschaftliche Assistentin im Bereich Teilchenphysik arbeitet. Beamline-Wissenschaftler Andrei Hloskovsky, der sich um externe User-Experimente an PETRA III kümmert, sagt: „Die Kriegsnachrichten haben bei mir enorm viel Stress ausgelöst. Aber meiner Familie in der Ukraine, meinen Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen geht es den Umständen entsprechend gut – wenn man das überhaupt so sagen kann.“
Wir haben uns für DESY KOMPAKT mit beiden in der Campus-Cafeteria verabredet. Und während wir reden – über Zerstörung, Hilfe, Hoffnung – radeln fröhlich-lärmende Kinder an uns vorbei: geflüchtete ukrainische Kinder, die zusammen mit ihren Familien in den DESY-Gästehäusern auf dem Forschungscampus ein neues Zuhause auf Zeit gefunden haben.
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Der 68-jährige Serguei Fomin war Leitender Wissenschaftler am Kharkiv Institute. Über einen DESY-Kontakt kam der Ukrainer auf den Hamburger DESY-Campus. (Foto: DESY/Christina Mänz)
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Es gibt Momente da zittern seine Hände, da wird die Stimme brüchig und sein Blick leer. In diesen Momenten sagt Serguei Fomin mehr als jedes Wort auch nur annähernd ausdrücken kann. Bis zum Morgen des 24. Februar war Serguei Fomin Leitender Wissenschaftler für Theoretische Physik am Kharkiv Institute of Physics and Technology (KIPT), dem größten Forschungszentrum für physikalische Wissenschaften in der Ukraine. Und dann überrollte ihn der Krieg. Für ihn in Kharkiv, in der Ost-Ukraine, unvorhersehbar schnell und überwältigend brutal.
„Um fünf Uhr morgens wachte ich von den ersten Bomben auf und sah die Raketeneinschläge und Explosionen von meiner Wohnung im neunten Stock aus“, schildert der Forscher den Anfang vom Ende all dessen, was für ihn bis dato Bestand und Wert hatte. Innerhalb einer halben Stunde packte er, der Sohn eines Russen und einer Ukrainerin, ein paar Taschen Leben ein, und seine Frau, floh, erst in einen Schutzkeller in der Nähe vom Flughafen, dann aus seiner Heimatstadt, letztlich aus seinem Mutterland, über Bulgarien und Rumänien nach Deutschland.
Die Juni-Sonne scheint fast unverschämt freundlich über dem Hamburger DESY-Campus, als der 68-jährige Wissenschaftler über die dunkelsten Seiten des Lebens spricht. „Am Anfang konnte ich das nicht – es ist so schwer, wenn um einen herum das normale Leben tobt.“ Fomin ist in Sicherheit – und im Zwiespalt. Gedanklich und mit dem Herzen ist er in seinem geschundenen Land. „Fast alle meine Kollegen – in meiner Gruppe waren wir zehn – sind aus verschiedenen Gründen in Kharkiv geblieben. Ihnen zu helfen ist für mich das größte Problem und die Aufgabe mit der höchsten Priorität.“ Das Forschungszentrum ist geschlossen, Raketen haben es schwer beschädigt. Nur wenige Mitarbeitende sind noch da, um die Anlagen zu betreuen. „Auch der Institutsdirektor. Der bleibt wie ein Kapitän auf seinem Schiff.“ Von ihm bekommt Fomin direkte Informationen. „Der Schaden ist immens. Die Infrastruktur wurde zerstört, die Elektronik, die Transformatoren.“ Er fürchtet: auch sein geistiges Lebenswerk. „Ich habe nur mein Notebook retten können.“
Zwischen dem Kharkiv Institute und DESY gibt es eine lange Tradition des Austauschs. Über seinen Kontakt zu DESY-Wissenschaftlerin Natalia Potylitsina-Kube kam Fomin letztlich selbst auf den Hamburger Forschungs-Campus. Von hier aus versucht er mit aller Kraft, gemeinsam mit der DESY Relief Funds-Gruppe Hilfe für die Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine zu organisieren. Beim neu umgestalteten europäischen Forschungsprojekt EURIZON (Anm.: Siehe Interview mit Martin Sandhop), an dem das Kharkiv Institute beteiligt ist, fungiert Serguei Fomin als Repräsentant seines Zentrums. „Die Situation in der Ukraine ist aktuell unklar und gefährlich. Kharkiv ist immer wieder unter Beschuss.“ Fomin ist niederschmetternd realistisch: „Derzeit versuchen wir zusammen mit meinen deutschen Kollegen, passende Mechanismen zu finden, den Forschenden vor Ort zu helfen. Die wissenschaftliche Community ist eben nicht das Rote Kreuz.“ Sorge bereitet deshalb auch der Gedanke an Abwanderung von hoch qualifizierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Der Ukraine droht ein ‚Braindrain.‘ Und Serguei Fomin? Der will zurück. Eines Tages. „Ich träume von Kharkiv. Ich bin dort geboren. Mein Leben ist da!“
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Internationale Wissenschaftskooperationen in Kriegszeiten – die Sanktionen haben auch Konsequenzen für DESY. Ein Einblick in die Forschungsbereiche:
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DESY hat in seinen Gästehäusern auf dem Hamburger Campus 32 Geflüchtete, darunter 12 Kinder, und in Zeuthen 8 Geflüchtete aus der Ukraine untergebracht. Ein Dank an alle freiwilligen Helferinnen und Helfer.
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Herausgeber: Deutsches Elektronen-Synchrotron DESY
Ein Forschungszentrum der Helmholtz-Gemeinschaft
Bildnachweise: Marta Mayer/DESY, Gesine Born/DESY, Christina Mänz/DESY
Kontakt: kompakt@desy.de
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